Der folgende Text ist die leicht überarbeitete Version eines Vortrags, der im Rahmen des Impulsabends „Fußball reloaded – Fankultur nach Corona“am 21.07.2021 gehalten wurde.
Jugend, Fußball und Repräsentation in Leipzig nach Corona – Impulse aus Sicht der Fansozialarbeit zur Wiederaufnahme des Spielbetriebs mit Fans
Christian Kohn
Dass sich unser aller Alltag einmal so radikal verändern würde, wie das seit dem Frühjahr 2020 passiert ist, daran hätte wahrscheinlich vor nun gut 1 ½ Jahren kaum jemand gedacht: Kontaktbeschränkungen, Maskenpflicht, Schul- und Kitaschließungen, Homeschooling, Diskussionen um Impfpflicht, Inzidenzen und R-Werte und natürlich auch die Sorge um Risikogruppen, all das waren Erfahrungen, die wir alle so noch nicht kannten – und die zu sehr viel Verunsicherung und sicher auch Frustration geführt haben.
Vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene war es trotz der oftmals angeführten Resilienz enorm schwierig, sich während der Pandemie zurechtzufinden. Denn die befinden sich gerade aufgrund ihres Alters in einer Lebensphase, die nicht nur, aber zu großen Teilen durch eine generelle Verunsicherung in vielen Dingen geprägt ist.
Selbstverständlich waren die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie notwendig, um Risikogruppen zu schützen und eine noch schlimmere Ausbreitung der Pandemie zu verhindern. Und natürlich – das konnte man gerade auch an den zahlreichen Solidaritätsaktionen von jungen Fußballfans und Ultras sehen – gab es seitens junger Menschen einen sehr verantwortungsvollen Umgang mit der Pandemie und den damit verbunden Einschränkungen. Klar ist aber auch: die ganzen pandemiebedingten Einschränkungen stehen in diametralem Gegensatz zu den Charakteristika der Jugendphase.
Seit mehr als einem Jahr ist es jedenfalls ziemlich schwer, als Jugendlicher oder junger Erwachsener das zu machen, was die Lebensphase „Jugend“ unter „normalen“, vielleicht muss man auch sagen: unter Umständen, wie wir sie bisher kannten, ausmacht: sich ausprobieren, Neues erkunden, Beziehungen und Freundschaften eingehen, Mobilität erweitern, sich vom Familienhaus abnabeln, eine eigene Identität und eigene Positionen zum Leben und zur Gesellschaft finden. In Zeiten von Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren war all dies nicht oder eben nur eingeschränkt möglich.
Wichtige jugendtypische Erfahrungen und Erlebnisse (wie z. B. das Treffen mit Freunden, das gemeinsame „Abhängen“ im öffentlichen Raum, sportliche oder kulturelle Aktivitäten) fielen weg. Typische Orte des Zusammenseins wie Schule, Freizeiteinrichtungen oder eben auch Angebote der Jugendarbeit und Jugendhilfe waren entweder gar nicht oder nur begrenzt zugänglich. Darüber hinaus konnten viele Jugendliche und junge Erwachsene das letzte Jahr nur im Kontext ihrer Familie verbringen – in einer Lebensphase wohlgemerkt, in der eigentlich die Emanzipation von der Familie im Vordergrund steht. Viele jugendtypische Lernprozesse, die immer auch Ergebnis der genannten Erfahrungen und Erlebnisse sind, waren nicht möglich.
Und das hat natürlich Auswirkungen auf junge Menschen, die diese auch wahrnehmen. Alle bislang durchgeführten Studien zu den Auswirkungen der Pandemie auf Jugendliche und junge Erwachsene zeigen sehr deutlich, dass die Pandemie etwas mit ihnen angestellt hat. Ohne jetzt hier im Weiteren auf diese Studien und die Ergebnisse einzugehen, lässt sich zusammengefasst sagen: Jugendliche haben während der Pandemie vermehrt Angst um sich und auch die Gesellschaft und gleichzeitig fühlen sie sich nicht ausreichend gehört und beteiligt, gerade bei Dingen, die sie ganz konkret betroffen haben.
Auch den jugendlichen Fußballfans, die wir hier am Standort in Leipzig begleiten, geht es da nicht anders. Ohne die unterschiedlichen Jugendkulturen oder die unterschiedlichen Auswirkungen der Pandemie auf einzelne Jugendliche gegeneinander ausspielen zu wollen, kann man vielleicht sogar sagen, dass Corona nochmal andere Auswirkungen auf Fußballfans hatte. Das hat vor allem etwas mit dem Selbstbild der jugendlichen Fußballfans zu tun, mit denen wir in den Fanprojekten arbeiten.
Für die Fußballfans, mit denen wir in der professionellen Fanarbeit zu tun haben, sind der Fußball und das gemeinsame Erlebnis Lebensmittelpunkt. Die im Rahmen der Fankultur etablierten Rituale und Codes bestimmen nicht nur die Spieltage, sondern auch das Leben unter der Woche. Gerade bei den Ultras, mit denen wir maßgeblich arbeiten, sprechen wir von einer großen und gewachsenen Jugendkultur mit einem festen sozialen Gefüge. Für diese Jugendlichen war es besonders herausfordernd, mit den pandemiebedingten Einschränkungen umzugehen. Denn zusätzlich zu den bereits genannten Einschränkungen im privaten Bereich, denen alle Jugendlichen unterlagen, ist mit den Abbrüchen der Ligen und dem Ausschluss von Zuschauern auch ein großer Teil dieses sozialen Gefüges weggefallen, der das Leben für die meisten der Jugendlichen, die wir begleiten, ausmacht.
Ich will das an drei prägnanten Punkten etwas verdeutlichen:
Erstens: Wie schon gesagt ist für die Fußballfans, mit denen wir arbeiten, der eigene Verein, aber vor allem die eigene Fan-Gruppe ein ganz wichtiger Bestandteil der eigenen Identität. Und diese Gruppe, die sich normalerweise regelmäßig trifft, in der sich ganz wichtige Freundschaften entwickelt haben, in der man sich gemeinsam Sachen ausdenkt, wo man kreativ ist und oft über alles mögliche diskutiert wird, die konnte sich nun über ein Jahr lang entweder gar nicht oder nur unter schwierigen Bedingungen treffen. Für viele unserer Fans ist dieser Verlust von freundschaftlichen Kontakten, spannenden Diskussionen und auch Ausgleich zum eigenen Alltag sehr schwierig gewesen.
Zweitens: Repräsentation im Stadion ist ein ungemein wichtiger Punkt für die jugendlichen Fußballfans, mit denen wir in den Fanprojekten arbeiten. Der Spieltag ist ein Ventil, er dient zur Selbstbestätigung und zum Artikulieren von Interessen. Im Stadion können sich die Fanszenen und Fangruppen präsentieren und in einen kreativen Wettstreit (Choreographien etc.) mit dem Rivalen des gegnerischen Vereins treten. Sie können dort aber auch ihre Meinung kundtun, sie können sich zu verschiedenen Anlässen positionieren und Kritik üben. Vor allem den Ultras, für die Repräsentation Kritik und Positionierung wichtige Bestandteile sind, fehlte nach der Einstellung des Spielbetriebs in den unteren Ligen und des Zuschauerausschlusses in den Profiligen diese Bühne und – vielleicht gerade angesichts der Konflikte zischen Fans und Verbänden, die ja durch die Pandemie nicht abgeschlossen, sondern lediglich unterbrochen wurden – der Raum, um ihre Meinung öffentlichkeitswirksam artikulieren zu können.
Drittens: Grenzen auszutesten und zu verschieben, zu schauen, was geht und was nicht geht, ist ein ganz selbstverständlicher Teil jugendlicher Lebensphase, der wichtig ist. Dieses manchmal spontane, manchmal auch ritualisierte Reiben an Regeln und Vorschriften findet sich auch in jugendlicher Fan- und Ultrakultur wieder – gerade am Spieltag. Dieses Grenzen austesten konnte aber aufgrund der Aussetzung des Spielbetriebs bzw. des Zuschauer*innen-Ausschlusses während der Pandemie nicht oder nur bedingt stattfinden. Wichtige Diskussionen hierzu, die auch innerhalb der Fanszenen selbst sehr oft geführt werden, sind damit ausgeblieben.
Was bedeutet dies im Hinblick auf die bevorstehende Saison und die kommenden Spiele? Zunächst sollten wir uns trotz der immer noch nicht vollständig überstandenen Pandemie freuen, dass wieder ein langsamer Schritt in Richtung Normalität, in unserem Falle also hin zu Fußball vor Fans, möglich sein könnte. Auch wenn es noch Einschränkungen geben wird und sicherlich noch abzuwarten ist, wie sich Fußball und Fankultur tatsächlich entwickeln werden, haben wir hier am Standort schon wahrgenommen, dass die Sehnsucht nach dem Fußball bzw. „dem Stadion als Sozialraum und sinnstiftendem Ort” groß ist, wie das auch die Kollegin Julia Zeyn von der KOS an anderer Stelle kürzlich beschrieben hat.
Was bedeutet das aber nun auch konkret für unser Netzwerk? Ich würde gerne fünf prägnante Thesen zur Diskussion stellen, die eigentlich überhaupt nicht so neu sind, aber aus unserer Perspektive vor allem im Hinblick auf die bevorstehende Saison wieder in den Fokus rücken sollten und gestärkt werden müssten:
Erstens: Es braucht eine verbindliche Kommunikation vor und an den Spieltagen
Es beginnt langsam aber sicher eine Phase, in der vieles wieder möglich scheint – man denke nur an die Bilder der vollen Stadien während der EM, die ja eine sehr fragwürdige Normalität suggerierten –, wahrscheinlich aber weiterhin sehr unterschiedliche regionale Einschränkungen und Regelungen gelten werden. Da zieht viele Fragen nach sich: Sind Auswärtskontingente zugelassen – und wenn ja wieviele und zu welchen Bedingungen? Wie aktuell sind die Hygienekonzepte – an was müssen sich die Fans halten? Für die Fans – wie im Übrigen auch für uns, die wir ja als Vermittler und Übersetzer fungieren sollen – ist es ziemlich schwierig, den Überblick zu behalten. Zumal eingespielte Prozesse und Abläufe über ein Jahr lang außer Kraft gesetzt waren – für uns, aber auch für Fußballfans. Das alles führt zu Verunsicherung. Deswegen braucht es eine klare Kommunikation und klare Abläufe im Vorfeld zunächst durch Vereine, Verbände, aber auch die Kommunen und Städte: Sicherheitsberatungen vor jedem Spiel, frühzeitige Kommunikation der aktuellen Möglichkeiten bzw. Verordnungen durch Gesundheitsämter, verständliche Hygienekonzepte, rechtzeitige Info zu Gästekontingenten – das alles sind Dinge, die zu berücksichtigen wären.
Zweitens: Freiräume für Fans tragen zur Entspannung bei
Wenn wir uns die Frage stellen, inwieweit gerade junge Fußballfans in der aktuellen Situation erreicht werden können, dann müssen wir uns auch die Frage stellen, ob sie die Möglichkeit haben, ihrem Erleben wieder Ausdruck zu verleihen. Unter den Fußballfans, die wir begleiten, wächst jedenfalls das Bedürfnis all das wieder tun zu wollen, was sie während der Pandemie schmerzlich unterdrücken mussten. Deswegen: eine Würdigung des vorbildlichen und verantwortungsbewussten Verhaltens der Fans während der Pandemie durch größtmögliches Entgegenkommen und eine Unaufgeregtheit in organisatorischen Fragen wären aus unserer Perspektive sinnvoll. Selbstbestimmte An- und Abreisewege von Fans sollten respektiert werden. Alle Ideen, das Erleben in den Fankurven und Stadien wieder einigermaßen „normal“ gestalten zu können, sollten zumindest ernsthaft andiskutiert werden. Aber auch der Spielraum für Repräsentation im Stadion in Form von Choreografien und ja: auch kritischen und unbequemen Meinungsäußerungen in der Kurve sollte großzügig ausgelegt werden. Von Vornherein auf restriktive Maßnahmen, Vorgaben und Verbote zu setzen nach all den pandemisch bedingten Einschränkungen, die Fans auf sich nehmen mussten, schürt nur Unzufriedenheit und baut unnötig Druck auf.
Drittens: Mitbestimmung von Fans kann gewinnbringend sein
Wir wissen aus unserer alltäglichen Arbeit ziemlich gut, dass überall dort, wo (jugendliche) Fußballfans in Entscheidungen eingebunden werden, wo deren Beteiligung vielleicht sogar strukturell verankert ist, nicht nur die Akzeptanz für die jeweiligen Entscheidungen größer ist, sondern vor allem ganz viel kreative Ideen vorzufinden sind, die Entscheidungen tatsächlich besser machen können. Gerade die Erstellung von Hygienekonzepten unter Einbindung der Fans vergangene Saison ist ein Beispiel dafür, wie einfach und gewinnbringend Mitbestimmung sein und letztlich auch ein Schritt in Richtung verantwortungsbewusster Normalisierung sein kann. Diese Kommunikation zwischen Verein und Fans muss unbedingt beibehalten und intensiviert werden – gerade auch im Hinblick auf die Diskussionen um das Verhalten des Fußballs während der Pandemie.
Viertens: Es braucht Rollenklarheit im Netzwerk
Es geht an dieser Stelle ja um die Perspektive der Fanprojekte – und deswegen möchte ich nochmal gerade angesichts der bevorstehenden Saison, eindringlich dafür werben, dass allen unsere Rolle bekannt sein muss: Aufgabe eines Fanprojektes an den Spieltagen ist es, zwischen Fans und den involvierten Institutionen zu vermitteln – was wir hingegen nicht können und wollen, ist über Fans zu bestimmen oder Auflagen durchzusetzen. Das Fanprojekt ist nicht nur am Spieltag nah an den Fans dran – aber wir sind kein Informationsgarant und schon gar keine Ermittlungsbehörde, weil wir einen gesetzlichen Auftrag haben, der auf Vertrauensschutz basiert und der es uns verbietet, Informationen weiterzugeben, die wir im Rahmen unserer sozialarbeiterischen Tätigkeit bekommen. Wir wissen, dass das für viele Institutionen im Netzwerk schwer nachzuvollziehen ist. Aber gerade in kniffligen Situationen an Spieltagen oder an Tagen, an denen es ordnungspolitische Akteure oder die Vereine vielleicht gerne anders hätten, muss das Netzwerk respektieren, wo unser Auftrag und damit verbunden: unsere Grenzen liegen.
Fünftens: Konfliktfähigkeit führt zu Lernprozessen
Wir alle, das wurde eingangs bereits betont, stecken in einer neuen, bisweilen unübersichtlichen Situation und manchmal gibt es unglückliche Umstände, für die niemand die Schuld trägt – auch nicht die viel gescholtenen Fußballfans. Sollte es zu Konflikten kommen, die wir niemals ausschließen können, wäre es ratsam, nicht öffentlich mit dem Finger auf andere zu zeigen, sondern im Netzwerk die Dinge sachlich aufzuarbeiten, Widersprüche und Meinungen auch mal stehen zu lassen und innerhalb des Netzwerkes offen für Lernprozesse zu sein. Das würde uns nicht nur in dieser unübersichtlichen Pandemiezeit viel erleichtern, sondern ist etwas, das über Corona hinaus Bestand haben sollte.